• bis (ganztägig) (Europe/Berlin)

  • Thema ist die Schwierigkeit, Beitragen und Teilen auszubalancieren, ohne aufzurechnen. Die Erfahrungen aus solidarisch organisierten Gruppen sollen dabei den Überlegungen zu Recht und Gerechtigkeit in einer post-kapitalistischen Gesellschaft gegenüber gestellt werden.

    Gerechtigkeit gibt es nicht, jedenfalls nicht als ein verlässlich funktionierendes System von Interessenausgleich zwischen Individuen und Gruppe bzw. Gesellschaft. Allerdings gibt es Ungerechtigkeit, nämlich als eine sehr deutliche Empfindung des Individuums über die eigene Stellung zu anderen oder innerhalb einer Gruppe. Und sie wird geltend gemacht. Um sie wird gekämpft, ob privat, im kleinen Kollektiv oder im gesellschaftlichen Raum. Fluchtpunkt für diese Auseinandersetzungen ist wiederum der allgemein gültige oder auch unterstellte Begriff von Gerechtigkeit. Insofern ist Gerechtigkeit als ideologisch umkämpfte Projektionsfläche durchaus real.
    Jede Epoche, alle gesellschaftlichen Verhältnisse oder auch alle Wertegemeinschaften haben dabei ihre spezifischen Bezugspunkte. Gerecht ist, was der „Gott-gewollten“ Ordnung entspricht. Gerecht ist gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Gerecht ist, wenn die aufgebrachte Leistung angemessen vergütet wird. Gerecht ist, wenn alle die gleichen Startbedingungen haben. Gerecht ist, wenn niemand Not leiden muss, unabhängig von Leistung und Lebensbedingungen.

    Das neoliberale System, das alle Menschen zu konkurrierenden EinzelunternehmerInnen macht, hat den Gerechtigkeitsbegriff vollend relativiert. Was „gerecht“ ist, entscheidet der Konkurrenzkampf auf dem Markt der Möglichkeiten. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, gehört zu den VerliererInnen und wird abgehängt. Deshalb redet man lieber nicht darüber.

    Bei dieser Logik bleibt ausgeblendet, dass das über Tauschbeziehungen angeblich hergestellte Gleichgewicht oft genug auf Formen von Raub, Betrug und Erpressung beruht. Und zwar nicht nur vom Staat und von den großen Konzernen, sondern in subtiler Form auch durch die Einzelunternehmer¬Innen selbst: JedeR ist dem anderen eine potentielle Ressource, ob es um Ideen, um Hilfsbereitschaft oder um interessante Kontakte geht, die heimlich oder unter Nutzung einer besseren Position angeeignet werden. Und jedeR muss damit rechnen, vom Kumpel oder der besten Freundin als Ressource betrachtet und benutzt zu werden. Freundschaft und Solidarität sind unter diesen Bedingungen fragile Konstrukte.

    Nicht ohne Grund also ist radikale Kapitalismuskritik wieder ein wichtiges, überall wahrnehmbares Thema geworden. Die Bücher mit Entwürfen für „die Zeit danach“ stapeln sich. Aber die Frage, wie eine andere Gesellschaft dann auch eine gerechtere werden kann, bleibt meist ausgespart. Oft wird davon ausgegangen, dass das Phänomen der Ungerechtigkeit eines der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist und mit ihr untergehen wird. Oder es wird eine Übergangssituation angenommen, in der (jetzt auf einmal fürsorglich gesinnte) staatliche Institutionen ausgleichend tätig werden.

    Gleichzeitig gibt es eine steigende Zahl von Kollektiven, Kooperativen, Kommunen, die dem Zwang zur konkurrierenden Selbstvermarktung schon hier und heute ein solidarisches Prinzip entgegenstellen wollen. Genossenschaften verständigen sich auf egalitäre, einforderbare Gerechtigkeitskriterien wie zum Beispiel kollektiven Besitz, Einheitslohn oder andere konkret verabredete Solidarprinzipien. Viele Kommunen oder Kollektive bemühen sich, die Tauschlogik in ihren Zusammenhängen ganz außer Kraft zu setzen, als Güter- und Bedarfsgemeinschaften, unter der Parole „Nicht-kommerzielles Leben“ oder in anderen Formen der solidarischen Beitrags-ökonomie.

    In Kooperativen nach dem Genossenschaftsmodell sind Gerechtigkeitsprobleme zwar verhandelbar, aber nicht lösbar. Es lässt sich nicht entscheiden, ob der Einheitslohn, der Leistungslohn oder der Bedarfslohn das Optimum an Gerechtigkeit darstellt. Die einen fühlen sich ungerecht behandelt, weil sie unermüdlich arbeiten, die anderen, weil ihre großen Erfolge für das gemeinsame Unternehmen nicht honoriert werden, und die dritten, weil sie sich durch den Eifer anderer unter Druck gesetzt fühlen.

    In Beitragsgemeinschaften, die auf das Aufrechnen gänzlich verzichten, haben Auseinander¬setzungen über Ungerechtigkeiten überhaupt keine Basis mehr. Aber das Gefühl, für die anderen mitzuarbeiten oder bei der Verteilung knapper Ressourcen irgendwie zu kurz zu kommen, lässt sich, vor allem bei angespannter Gruppensituation, schwer verdrängen. Ein Ausgleich kann aber auch nicht eingefordert werden, weil es ja das gemeinsame Grundverständnis ist, dass Beiträge und Bedürfnisse nicht vergleichbar sind. So bleibt nur das misstrauische Beobachten und unter Umständen das stillschweigende Absichern für einen eventuellen Absprung.

    Die Bedingungen werden noch dadurch erschwert, dass das neoliberale Prinzip, im Zweifelsfall für sich selbst sorgen zu können bzw. zu müssen, tief in unsere Köpfe eingepflanzt ist und wie ein dunkler Schatten über den Beziehungen in kollektiven Zusammenhängen liegt. Die Basis für stabiles gegenseitiges Vertrauen und Solidarität wird immer schmaler.

    Andererseits: wo können die Erfahrungen für eine andere, eine nicht-kapitalistische, kommu¬nistische Gesellschaft wachsen, wenn nicht in unseren Versuchen, die jetzige zu überwinden? Wo liegen die Grenzen von akzeptierbarer Ungleichheit? Wie können die Interessen ausgeglichen werden, ohne auf objektivierte Maßstäbe und damit auf Kontrollsysteme zurückzugreifen? Wodurch wird Misstrauen und Entsolidarisierung ausgelöst? Oder ist Gerechtigkeit gar eine Fata Morgana, die ganz andere zwischenmenschliche Verwerfungen widerspiegelt? Wir wollen uns eine Woche Zeit nehmen, um in der Bergwelt des schweizerischen Engadin in der traditionsreichen Begegnungsstätte Salecina über diese Fragen zu reden.

    Es geht darum, wie Aufteilungskonflikte in post- oder außerkapitalistischen Gesellschaftsformationen geführt werden können, ohne in marktförmige Äquivalenzprinzipien zurückzufallen – und sie darin zu reproduzieren. Dabei sollen die theoretischen Annäherungen aus Kapitalismus-kritischer, marxistischer Sicht und die praktischen Erfahrungen aus linken, kollektiven Strukturen miteinander konfrontiert werden.

    Die Tagung ist selbstorganisiert und wird von den Teilnehmenden getragen und ausgerichtet. D. h., von allen Teilnehmenden wird ein Beitrag zu Fragen, Thesen oder Erfahrungen, die in dem Kontext stehen, erwartet. Es haben sich bereits einige InteressentInnen angemeldet. Über weitere Beiträge freuen wir uns. Es sollten allerdings nicht mehr als 25, maximal 30 Teilnehmende werden.

    Die Aufenthaltskosten werden weitgehend aus Zuschüssen und Spenden bestritten, die Teilnehmenden zahlen nur den Betrag, den sie sich leisten können oder wollen.
    Die Tagungssprache ist deutsch, bei anderen Sprachvoraussetzungen versuchen wir, die notwendigen Übersetzungen in der Vorbereitung zu organisieren.
    Kontakt bzw. Anmeldung mit einer kurzen Mitteilung, was dein Beitrag sein könnte, bitte an: imma_harms@gmx.de oder info@salecina.ch

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